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Aber hier der Artikel, Quelle: Spiegel online vom 26.08.08

Triumph der Schmetterlinge

Von Ralf Neukirch

Angela Merkel tourt auf Bildungsreise durch die Republik. Ein Thema spielt keine Rolle: Jungen werden in der Schule benachteiligt und fallen hinter die Mädchen zurück.

Ursula von der Leyen fühlt sich ausnahmsweise nicht zuständig. "Ich kann Ihnen sagen, dass die Ministerin nicht zu einem Brainstorming über das Thema bereit ist", sagt ihr Sprecher. Es falle nicht in ihre Ressortkompetenz.

Man wundert sich ein wenig. Das Thema, um das es geht, ist die Benachteiligung von Jungen im deutschen Bildungssystem. Von einer Ministerin, deren Ressort auch für die Jugend zuständig ist, könnte man ein gewisses Interesse erwarten. Von der Leyen äußert sich sonst gern zu Dingen, für die sie nicht direkt zuständig ist, zu Kinderkrippen zum Beispiel. Das ist ein Thema, das politisch nützlich ist.

Vielleicht liegt hier ein Grund für ihre Zurückhaltung. Es ist für eine Politikerin gut, sich für die Gleichbehandlung von Frauen einzusetzen. Das wirkt modern und zeitgemäß. Der Kampf für benachteiligte Jungen klingt irgendwie gestrig.

FORUM: Erziehung - müssen Jungen schulisch stärker gefördert werden?

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Dabei sind die Unterschiede zwischen Jungen und Mädchen in der Schule mittlerweile ein großes Problem. Jungen schneiden in fast allen Bereichen schlechter ab. 47 Prozent der Mädchen gehen auf ein Gymnasium, bei den Jungen sind es nur 41 Prozent. Fast ein Drittel der Mädchen macht Abitur oder Fachabitur, aber nur ein knappes Viertel der Jungen. Die sind im Schnitt eine Note schlechter als die Mädchen. Es gibt deutlich mehr Jungen, die nicht einmal einen Hauptschulabschluss schaffen. Männliche Schüler werden deutlich häufiger an eine Sonderschule überwiesen.

Der Schulabschluss beeinflusst die gesamte Erwerbsbiografie. Junge Männer sind deutlich häufiger arbeitslos als junge Frauen. Das ist nicht nur ein individuelles Problem, sondern ein gesellschaftliches.

Man sollte meinen, dass das Abdriften eines Teils der Bevölkerung Politik, Wissenschaft und Pädagogen ebenso beschäftigt wie die Frage, ob es in Deutschland ausreichend Krippenplätze gibt. Erstaunlicherweise ist das nicht der Fall. Es gibt Projekte in einzelnen Bundesländern, die große Politik aber meidet das Thema.

Bundeskanzlerin Angela Merkel hat vergangene Woche ihre Bildungstour durch das Land begonnen. Das Jungen-Problem wird dabei nach gegenwärtiger Planung keine Rolle spielen. Der Nationale Bildungsbericht listet die Verringerung der Leistungsunterschiede zwischen Jungen und Mädchen nicht unter den "zentralen Herausforderungen der nächsten Jahre". Nur ein paar dürre Zeilen finden sich in dem voluminösen Werk.

Wie ist die Weigerung, sich ernsthaft des Problems anzunehmen, zu erklären? Die Ursachen haben viel mit den ideologischen Schlachten der sechziger und siebziger Jahre zu tun, mit dem Streit um die Gleichberechtigung der Frauen und die Rolle des Mannes. Dieser Streit ist nicht beendet, er hat sich auf andere Felder verlagert. Eines davon ist die Schule.

Einige Thesen der feministischen Debatte haben sich "habitualisiert", wie es in der Soziologie heißt. Sie sind zu einer festen Größe in der gesellschaftlichen Diskussion geworden. Eine davon ist die Annahme, schwächere Leistungen von Mädchen auf bestimmten Gebieten seien Ausdruck ungleicher Machtstrukturen. Früher, so heißt es in einem Reader der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, gab es einen "heimlichen Lehrplan", der zur Benachteiligung von Mädchen führte. Jetzt haben Mädchen eben bessere Noten, weil sie bessere Schüler sind.

Es ist eine Sichtweise, mit der sich die Welt sehr einfach erklären lässt. Nachteile von Mädchen etwa bei Hochschulabschlüssen oder in einigen Berufsfeldern werden "als Indikatoren einer noch immer nicht überwundenen Ungleichheit von Mädchen gesehen", wie die Münchner Bildungssoziologin Heike Diefenbach klagt. Der Bildungsvorsprung von Mädchen gelte dagegen als "erfreuliche Verringerung der sozialen Ungleichheit zwischen den Geschlechtern".

So sieht man es auch im Kanzleramt. Auf der Internet-Seite direktzurkanzlerin.de, auf der sich das Bundespresseamt im Namen von Angela Merkel zu Fragen der Bürger äußert, liest man: "Tatsächlich ist Gleichberechtigung an den Schulen Realität, weshalb Mädchen aufgrund ihres Entwicklungsvorsprungs, größeren Fleißes und höherer Lernmotivation im Vorteil sind." Dabei will man es belassen. "Eine gezielte Jungenförderung ist allerdings keine Lösung", heißt es.

In der Wirklichkeit kann von Gleichberechtigung an den Schulen keine Rede sein. Der Hallenser Bildungsforscher Jürgen Budde kam in einem Bericht für das Bundesbildungsministerium zu erstaunlichen Schlüssen. So erhalten Jungen in allen Fächern bei gleicher Kompetenz schlechtere Noten. Auch wenn sie die gleichen Noten haben wie die Mädchen, empfehlen die Lehrer ihnen seltener das Gymnasium. Kurzum, Schüler werden bei gleicher Leistung schlechter behandelt als ihre Mitschülerinnen.

Budde hält sich mit Erklärungen zurück. Er beklagt einen Mangel an Studien, die das Thema Jungen und Schule empirisch untersuchen. Auch ohne Studien lässt sich aber ein relativ offenkundiger Grund für die Ungleichbehandlung der Jungen ausmachen. Es ist die Feminisierung des gesamten Schulwesens. Die Zahl der Lehrerinnen ist gestiegen, an vielen Grundschulen sind Lehrer bereits Exoten. Hinzu kommt, dass einige fragwürdige Annahmen der Geschlechterforschung längst den Schulalltag bestimmen.

Dazu gehört die Überzeugung, dass Verhalten, das typisch männlich ist - oder als solches gilt -, schlecht ist. Jede harmlose Schulhofrangelei steht mittlerweile unter Gewaltverdacht und wird unterbunden. Natürlich ist es sinnvoll, kleinen Jungen zu erklären, dass Schlagen keine Lösung ist. Aber muss bei jeder Rauferei gleich der Konfliktlotse angerannt kommen?

Der Unterricht, schreibt der Frankfurter Bildungsforscher Frank Dammasch, sei eher an weibliche Formen des Lernens und Gestaltens angepasst. Wenn sich Jungen wie Jungen verhalten, wird dies dagegen sanktioniert.

2. Teil: Das Prinzip "Gender Mainstreaming"

Der Unterrichtsstoff geht oft an Jungeninteressen vorbei. Wer Lesebücher für deutsche Grundschulen durchblättert oder sich Diktate zeigen lässt, der wird darin wenig über Fußball oder Piraten lesen. Stattdessen dürfen die Kinder darüber schreiben, wie es ist, mit nackten Füßen durchs Gras zu gehen und Libellen zu beobachten.

Dabei ist wissenschaftlich untersucht, dass sich die Leistungen von Jungen verbessern, wenn die Themen sie interessieren. Tauchen Wörter wie Schiedsrichter oder Torwart in den Texten auf, erzielen Jungen in der Rechtschreibung leicht bessere Werte als Mädchen. Sonst hinken sie in diesem Bereich deutlich hinterher.

Eine naheliegende Konsequenz wäre es, stärker auf die inhaltlichen Interessen der Jungen einzugehen. Man muss ja im Kunstunterricht nicht immer nur Schmetterlinge als Hinterglasbilder malen lassen. Es könnte ja auch mal eine Ritterburg sein.

Doch bisher hängt es vom Engagement der Lehrerin oder des Lehrers ab, ob auf die Interessen von Jungen Rücksicht genommen wird. Oft ist das nicht der Fall. Das hat auch damit zu tun, dass an vielen Fachbereichen der Universitäten, in den Gewerkschaften und in den Schulbehörden ein feministischer Begriff die Arbeit prägt, der eine pragmatische Lösung erschwert. "Gender Mainstreaming" heißt das Prinzip, das auch für die Bundesregierung Priorität genießt.

Dem Begriff "gender" liegt die Vorstellung zugrunde, dass es neben dem biologischen Geschlecht ein davon unabhängiges soziales Geschlecht gibt. Weiblichkeit oder Männlichkeit sind demnach rein gesellschaftliche Konstrukte.

Konsequenterweise dürfen Jungen nicht gefördert werden, indem man ihren Interessen entgegenkommt. Das würde typisch jungenhaftes Verhalten belohnen. Im Gegenteil, sie müssen so erzogen werden, dass ihre Interessen sich anpassen. Wenn Jungs sich mehr für Piraten als für Schmetterlinge interessieren, dann muss man sie eben so lange konditionieren, bis sich das ändert. Sonst würde man die Geschlechterstereotypen noch verstärken.

In der sogenannten Männerarbeit tummeln sich Gruppen wie der Berliner Verein "Dissens", die es sich zur Aufgabe gemacht haben, Rollenverständnisse von Jungen zu ändern. So soll den Jungen Fußball verleidet werden, weil er als typischer Jungensport "nicht auf Körperwahrnehmung und Körperbewusstsein zielt, sondern auf leistungsgerechtes Funktionieren". Projekte von Dissens werden vom Land Berlin, vom Bund und von der EU gefördert. "Die feministische Diskussion hat dazu geführt, dass man die Jungen so behandelt, wie man sie gern hätte, und nicht, wie sie sind", sagt die Leiterin einer Arbeitsgruppe zur Bubenförderung im bayerischen Kultusministerium, Anne Blank.

Nicht alle sehen ein gravierendes Problem. "Ein Bildungsvorsprung ist für junge Frauen vorläufig oft bitter notwendig, um auch nur annähernd gleiche Chancen im Beruf zu haben", schreibt die Leiterin der Abteilung Geschlechterforschung am Deutschen Jugendinstitut in München, Waltraud Cornelißen. Das ist ein perfides Argument. Wäre es demnach in Ordnung, zehnjährige Jungen in der Schule zu benachteiligen, weil erwachsene Frauen im Beruf benachteiligt werden?

Ursula von der Leyen sieht das offenbar so. "Ich finde es nicht schlimm, dass Mädchen in Sachen Bildung an den Jungen vorbeiziehen", sagte sie in einem Interview. Deutsche Männer definierten sich noch immer über ihren Erfolg im Beruf. Das müsse sich ändern.

Wie immer, wenn über weltanschauliche Dinge gestritten wird, gibt es auch in der Bildungsdiskussion handfeste machtpolitische Interessen. In Deutschland existiert ein dichtes Netz von Frauen- und Gleichstellungsbeauftragten, von Beratungsstellen für Mädchen und Frauen und von Frauengruppen in Gewerkschaften und Institutionen. Sie leben davon, für die Gleichstellung der Frau zu kämpfen. Spezielle Förderprogramme für Jungen würden das eigene Selbstverständnis und die eigene Arbeit in Frage stellen. "Projekte für Männer haben es schwerer, öffentlich gefördert zu werden, wenn sie nicht profeministisch orientiert sind", kritisiert der Heidelberger Pädagoge Michael Matzner.

Die Frage ist, ob Verfechter einer einseitig auf Mädchen ausgerichteten Bildungspolitik nicht beiden schaden, den Jungen und den Mädchen. In der feminisierten deutschen Schullandschaft haben auch die Mädchen weniger Chancen, sich die Fähigkeiten anzueignen, die sie - in vernünftigen Maßen - später im Beruf brauchen: Risikobereitschaft, Konkurrenzdenken, Aggressivität.

Das ist ein Grund dafür, warum Frauen es schwer haben, in großen Unternehmen ganz nach oben vorzustoßen. Jungen zu vernachlässigen fördert nicht automatisch die Anliegen der Frauen. Das muss sich aber erst noch herumsprechen.

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